Donnerstag, 14. Juni 2012

Der Immerwache.

Treu dem Tag ergeben,
scheute er die Nacht,
und wollt' er Schlaf erleben,
zog er in die Schlacht.
Munt'ren Blicks so lebt' er,
"immerwach" so nannt' man ihn,
ruhelos - so war er doch,
konnt' niemals seiner Treu' entflieh'n.

Ergab er sich dem Herren neu,
neue Schelte war der Preis,
schwörte er erneut die Treu',
geschlagen ward er von dem Greis.
So fragt' er voller Schmerzen:
"Oh Tag, du Vaterland und Liebe,
warum schadst du meinem Herzen?"
Doch der Herr tat weiter Hiebe.

Eines Tages sprach der Tag,
zum Diener noch im Lachen:
"Verdienen tust du Schlag um Schlag,
und hörst nicht auf zu wachen.
Du glaubst, du könntst mich preisen,
und Nacht dir so ersparen?
Wir beide sind zwei Waisen,
ergänzen uns seit Jahren.

Willst du zum Weisen werden,
so nimm uns beide gleich,
Nimm alles an auf Erden,
dann wirst du ewig reich!"
Er fing nun an zu achten,
schlief tief und fest zum Morgen,
dann ward er zum Erwachten,
und lebte ohne Sorgen.


Sonntag, 10. Juni 2012

Loslassen.

"Das Leben wird von denen gemeistert, die loslassen." (Laotse)

Loslassen. Wird es nicht meistens von uns als Zeichen der Schwäche gesehen? Derjenige, der starr festhalten kann, egal, was kommen möge, der sei stark und mutig - und der einfach loslässt, er muss doch zu schwach gewesen sein, um sich festzuhalten.
Sage mir, wozu halten wir uns fest? Ist es unser Stolz, unser Standpunkt, unsere Meinung? Ist es Angst oder Wut? Starr festhalten kostet Kraft und ist meist trotzdem nutzlos. Schau doch: der starre Ast bricht im Sturm, der weiche biegt sich, und bleibt am Leben. 
Wirst du im Streit oft wütend? Warum? Bestimmt, weil du auf deinem Standpunkt beharrst. Warum nicht nachgeben? Erspart es nicht Mühe? "Ja, aber der Andere bekommt doch dann seinen Willen!" - Ja, und? Lass ihn doch.
Festhalten stürzt dichselbst ins Unglück - bewusstes Loslassen macht dich glücklich.
Also kann bewusstes Loslassen doch auch ein Zeichen für Stärke sein. ... Wobei - wieso wollen wir stark sein?
Wollen wir stark sein, damit man uns anerkennt, damit wir beliebt sind?
Stark zu sein ist ein Wunsch, der uns von uns selbst wegführt. Wunschlosigkeit führt uns zu uns selbst.
Das ist doch der Fehler an uns Menschen: wir bewerten. Wir sehen Dinge nicht, wie sie sind, wir stecken sie in Schubladen, wie man so schön sagt. Wir schauen uns auf der Straße um und sehen hässliche Menschen, hübsche Menschen - was wir vergessen: wir sehen Menschen. Wir sehen nur Gut und Böse und vergessen, dass es für jede Tat einen Grund gibt. Obwohl ich es schon tausendmal gesagt habe, kann ich mich nicht beherrschen, es noch einmal zu sagen: Wir sind ein Ganzes.

Und so wie Laotse es sagte, so könntet ihr handeln. Lasse jeden Wunsch, jedes Vorurteil, jede Meinung, jede Angst los. Nur dann bist du befreit, und kannst erleben, wer du wirklich bist. Und so wie ich es schreibe, so höre ich wieder Leute sprechen: "Ja, aber viele Menschen haben Wünsche, haben Träume und Meinungen, und sie meistern ihr Leben auch!" - Nun gut, es kommt darauf an, was man unter "das Leben meistern" versteht.
Ich verstehe unter "das Leben meistern" sein Leben ständig glücklich erleben zu können, ohne etwas bereuen zu müssen. In dem Moment, wo ein Drang entsteht, ein Wunsch entsteht, so entsteht auch Unglück, da wir ja scheinbar noch nicht so sind, wie wir es wollen, oder noch nicht das haben, was wir haben wollen.
Sind wir nicht gierig? Nur, wenn du nichts besitzen willst, und nichts mehr werden willst - sondern einfach nur bist - dann behaupte ich, kannst du dein Leben in jeder Sekunde glücklich sein. Denn das ist, woraus unser Leben eigentlich gemacht ist: aus Glück. Unser Leben besteht aus dem Stoff Glück, aber wir sehen es nicht, weil wir keinen Atemzug schätzen, keinen Augenblick. Wir gehen so verschwenderisch damit um, als hätten wir unendlich viele davon. Falsch gedacht - sterben müssen wir irgendwann, und welche Atemzüge hast du dann geschätzt, welche Augenblicke genossen - von insgesamt wievielen?

Das Leben wird von denen gemeistert, die loslassen. Achte darauf, einmal bewusst loszulassen, etwas bewusst zuzulassen, und genieße es. Dann kannst du sagen, ich habe diesen Atemzug nicht nur getan, sondern auch erlebt.